Diese Seiten befassen sich mit der Stiefkindadoption. Deshalb gehört der Fall Görgülü auf den ersten Blick nicht hier her. Wer sich den Fall genauer ansieht, stößt jedoch auf Fakten, die denen der Stiefkindadoption gleichen:

Ein leiblicher Vater, der um den Kontakt zu seinem Sohn kämpft, auf der einen Seite.

Adoptivpflegeeltern, die das Kind durch eine Adoption ganz für sich haben wollen, obwohl das Kind einen Vater hat, auf der anderen Seite.

Gerichte, die Entscheidungen treffen, die Unrecht sind. Andere Gerichte, die deshalb diese Entscheidungen widerrufen. Behörden, die meinen zu wissen, was das Kindeswohl ist und rechtliche Entscheidungen nach ihrer eigenen Überzeugung auslegen.

Und ein Kind, das zwischen all diesen streitenden Erwachsenen sein Schicksal hilflos erleidet.

Deshalb habe ich den Text aus dem Spiegel auf diese Seite kopiert.

 

Kind im Kreidekreis

Von Markus Verbeet, veröffentlicht im Spiegel Nr. 52/2005

Seit sechs Jahren streiten zwei Männer um einen Jungen: Der eine hat ihn gezeugt, der andere hat ihn aufgezogen. Die Bundesrepublik wurde in dem Fall schon verurteilt, Gerichte und Gutachter stritten sich. Aber noch immer ist unklar, zu wem der Junge gehört.

Es geht um ein Kind. Man kann das leicht vergessen in dieser Geschichte, denn es tauchen darin so viele Erwachsene auf. Aber es geht um ein Kind.

Das Kind ist Christofer zu nennen oder auch nicht, das lässt sich nicht so einfach sagen, seit die Erwachsenen darum streiten. Das Kind soll hier leben oder dort, auch dies lässt sich nicht sicher sagen, denn auch darum streiten die Erwachsenen.

Unbestritten ist, immerhin, die Geburt des Kindes: männlichen Geschlechts, am 25. August 1999, in Leipzig. So besiegelt vom Standesamt der Stadt, Abstammungsurkunde Nummer 2437/1999, ausgestellt im fünften Monat nach der Geburt.

Als der Streit gerade begonnen hatte, aber noch zügig zu enden schien. Als das Bundesverfassungsgericht noch nicht befasst war und nicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Nicht die deutsche Regierung und nicht diverse Staatsanwälte. Als noch nicht 3 Gutachten erstellt waren, 5 Strafanzeigen erstattet, 34 Gerichtsentscheidungen gefällt.

Mehr als sechs Jahre sind seit diesem 25. August 1999 vergangen. Noch immer kämpfen alle um den Jungen; alle außer der Mutter. Sie hat ihren Sohn gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben und will jetzt, "dass endlich einmal Ruhe ist".

Doch es ist nicht Ruhe. Es streiten Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte. Es streiten Psychologen und Politiker. Vor allem aber streiten, gemeinsam mit ihren Ehefrauen, zwei Männer. Zwei Männer, die dieses Kind lieben: Der eine hat es gezeugt, der andere hat es aufgezogen, und jetzt wollen beide dieses eine Kind.

Es ist ein klassischer Konflikt, ein Kind im kaukasischen Kreidekreis - doch wie ihn heute, in einem Rechtsstaat, lösen? Gehört das Kind zu dem Mann, der sein Vater ist? Oder zu dem Mann, den es seinen Vater nennt? Und müsste nicht, so oder so, längst eine Entscheidung gefällt sein?

Der Vater

Manchmal geht Kazim Görgülü in das Zimmer, das er für seinen Sohn eingerichtet hat. Er geht dann die Treppe hinauf, in den ersten Stock seines kleinen Hauses bei Leipzig, und schaut sich um.

In einer Kiste liegen Lego-Steine und Plastik-Schlümpfe für Christofer, im Regal stehen "Das große Buch der Dinosaurier" und "50 Gute-Nacht-Geschichten". Auf dem Bett sieht der Vater die Decke mit den Mäusen und den Elefanten, unter die sich Christofer kuscheln könnte. Vor dem Bett parkt das Feuerwehrauto, das Christofer über den Boden rasen lassen könnte.

Nichts fehlt in diesem Kinderzimmer. Nur das Kind.

"Vor sechs Jahren haben wir das Zimmer eingerichtet", sagt der Vater. Alles sollte vorbereitet sein, wenn Christofer hierher kommt. Doch Christofer ist nicht gekommen. Der Vater greift sich das Feuerwehrauto. "Das wollte ich ihm zu Weihnachten schenken", sagt er. Aber Weihnachten durfte er seinen Sohn nicht sehen. Der Vater blickt auf den Polizeihubschrauber. "Das war für Ostern", aber auch Ostern durfte er seinen Sohn nicht sehen. Dann geht Görgülü schnell zurück ins Wohnzimmer. Dort im Schrank sind die sechs Jahre Kampf um sein Kind dokumentiert. 13 Aktenordner.

Es ist schwierig, diese vielen Verfahren zu verstehen, und vielleicht ist es am schwierigsten für den Vater selbst. Er stammt aus Kusburun-Kuyü, einem kleinen Dorf im Osten der Türkei. Sein Urgroßvater hat das Dorf gegründet, erzählt er, noch heute leben dort nur Görgülüs, sie züchten Schafe und Ziegen. Aber jetzt muss er, der keinen Schulabschluss hat und als Verputzer arbeitet, plötzlich die deutsche Juristerei begreifen. Seine jetzige Ehefrau, eine Deutsche, die er nach der Geburt seines Kindes geheiratet hat, hilft ihm. "Aber manchmal kann ich nichts begreifen", sagt der 36-Jährige.

Das Drama beginnt, als er bereits mehrere Jahre in Deutschland lebt. 1994 kam er hierher und begehrte Asyl, rund drei Jahre später lernt er eine deutsche Frau kennen. Das Paar will heiraten, die Frau wird schwanger, aber dann sagt die Frau alles ab. Monate später erfährt Görgülü, dass seine Ex-Partnerin das Kind geboren hat. Es lebt bereits bei einer Pflegefamilie.

Kazim Görgülü beginnt, um sein Kind zu kämpfen. Er geht zum Jugendamt, doch die Mitarbeiter weisen ihn ab. Die Mutter wolle eben nicht, dass das Kind zu ihm komme, erklären sie. Und wer wisse denn, dass er überhaupt der Vater sei? Görgülü zieht vor Gericht, um die Vaterschaft feststellen zu lassen. Er gewinnt das Verfahren, aber er verliert Zeit.

Sein Sohn ist jetzt fast ein Jahr alt. "Das Kind hatte enge liebevolle Bindungen zu seinen Pflegeeltern aufgebaut", heißt es in einer Stellungnahme des Landkreises, dessen Jugendamt für Christofer zuständig ist. "Eine Trennung zu Gunsten des biologischen Vaters war dem Kind aus der Sicht des Kindeswohles nicht zuzumuten." Christofer bleibt bei den Pflegeeltern.

Die Verfahren stehen erst am Anfang, noch ist der erste Aktenordner nicht gefüllt, aber spätestens jetzt weiß Kazim Görgülü: Die Zeit arbeitet gegen ihn.

Görgülü zieht weiter vor Gericht, zunächst mit Erfolg. Das Amtsgericht ordnet an, dass er seinen Sohn sehen darf. Mehrfach trifft er die Pflegefamilie, das Amtsgericht überträgt Görgülü schließlich sogar das Sorgerecht. Doch das Jugendamt ruft das Oberlandesgericht Naumburg an. Das Amt bringt vor, was angeblich gegen den Vater vorzubringen ist. Er sei, unter anderem, "im hiesigen Sprach- und Kulturkreis nicht heimisch" und sogar "praktizierender Moslem". Die Richter des 14. Zivilsenats urteilen, wie sie noch häufiger urteilen werden: gegen den Vater. Görgülü darf sein Kind nicht mehr sehen.

Als seine Verfassungsbeschwerde nicht angenommen wird, zieht Görgülüs Anwältin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die sieben Richter, darunter ein Deutscher, entscheiden im Fall "Görgülü versus Germany": Deutschland hat den Vater in seinem Menschenrecht auf Achtung des Familienlebens verletzt, eine neue Regelung ist zu treffen. Görgülü gewinnt, Germany verliert.

Sein Sohn ist jetzt viereinhalb. Der Vater freut sich, ihn endlich wieder zu sehen. Aber er freut sich zu früh.

Denn das Oberlandesgericht Naumburg stellt sich stur. Ein Umgangsrecht für den Vater? Kommt nicht in Frage, urteilen die Richter des 14. Zivilsenats unbeirrt. Selbst nachdem das Bundesverfassungsgericht die Richter noch einmal belehrt hat, ändert sich nichts.

Eine Entscheidung pro Görgülü melden die Naumburger Richter umgehend nach Karlsruhe, nur um am selben Tag noch eine Entscheidung gegen Görgülü zu treffen - diesen zweiten Beschluss aber behalten sie erst einmal für sich. Die Verfassungsrichter fühlen sich ausgetrickst. Ihnen "drängt sich der Verdacht auf, dass der 14. Zivilsenat diesen Beschluss einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung entziehen wollte". Was nicht gelingt.

Görgülü legt die Entscheidung in Karlsruhe vor, das Bundesverfassungsgericht wird sie später in der Luft zerreißen. Das Oberlandesgericht habe "das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht nur nicht beachtet, sondern dessen Vorgaben in ihr Gegenteil verkehrt". Und: Das Gericht habe "außerhalb seiner Zuständigkeit unter Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht" gehandelt. Einen härteren Vorwurf kann man Richtern kaum machen. Die Staatsanwaltschaft Halle ermittelt gegen vier Richter wegen Rechtsbeugung.

In einem Eilbeschluss bestätigt das Bundesverfassungsgericht, dass Görgülü seinen Sohn für zwei Stunden pro Woche sehen darf. Samstags, 15 bis 17 Uhr. Auf dem Papier hat Görgülü gewonnen. Aber er hat ein weiteres Jahr verloren. Und die Probleme in der Praxis beginnen erst. Denn ein Recht auf Umgang ist oft wenig wert - und manchmal gar nichts.

Als Görgülü seinen Sohn im Januar zum ersten Mal wiedersehen will, legt das Jugendamt das Attest einer Ärztin vor, Christofer sei "fieberhaft erkrankt". Als der Vater ihn eine Woche später sehen will, beruft sich das Amt auf ein Gutachten. Eine "erhebliche Traumatisierung" befürchten zwei Sachverständige, wenn Christofer von der Pflegefamilie getrennt würde; der Besuch wird wiederum unterbunden.

Der Vater glaubt längst, dass das Jugendamt, dem das Sorgerecht für seinen Sohn übertragen worden ist, gemeinsame Sache macht mit den Pflegeeltern. Über Jahre haben die Pflegeeltern und der Amtsvormund dieselbe Anwältin. Die vermag aber keinen Interessenkonflikt zu erkennen.

Auch der verantwortliche Landrat weist alle Vorwürfe von sich - auch wenn sich die Aufsichtsbehörde gezwungen sehen wird, dem Landkreis den Fall zu entziehen, da der Umgang immer wieder verhindert werde. Die Aufsichtsbehörde konstatiert "eklatante Gesetzesverstöße".

Görgülü kann nicht fassen, wie sich alle gegen ihn zu verbünden scheinen, und dann muss er noch diesen Artikel in einer Lokalzeitung lesen: "Die wundersame Karriere des Kazim Görgülü". Der Verfasser behauptet, dass "der Türke", der jetzt "den treusorgenden Vater gibt", damals nur ein Bleiberecht begehrte, als er Christofers Mutter kennen lernte. "Eine deutsche Frau muss her", darum sei es dem "abgelehnten Asylanten" gegangen.

Er will nun endlich Christofer sehen, nachdem keine Ärztin mehr eine Erkrankung bescheinigt und das Bundesverfassungsgericht das Gutachten über die "erhebliche Traumatisierung" für irrelevant gehalten hat. Doch die nächsten Samstage sind bedrückend, zweimal nur kann er mit seinem Sohn spielen. Dann geht immer etwas schief. "Die Pflegeeltern halten Christofer fest", sagt er. "Oder die Frau vom Jugendamt fragt so oft, ob er mitkommen will, bis er nein sagt." Die Pflegeeltern und das Amt bestreiten dies.

Seit August immerhin verlaufen die Samstage besser. Meistens kann Görgülü seinen Sohn sehen, kann in den Zirkus gehen oder auf den Fußballplatz. Aber immer nur samstags, immer nur kurz; zuletzt alle zwei Wochen für vier Stunden.

Görgülü hätte Christofer so gern ganz bei sich, im nächsten Sommer oder spätestens im Sommer drauf. Nach sechs Jahren Kampf sitzt er ratlos vor den Aktenordnern und sagt: "Ich kann das alles nicht mehr verstehen." Er will nicht aufgeben, aber er sieht müde aus.

Während der Woche bleiben ihm nur die Fotos, die er auf den Wohnzimmertisch legt. Sie zeigen einen der größten Erfolge, den Görgülü in sechs Jahren errungen hat. Sie zeigen einen Fußballplatz am Samstag, dem 28. Mai 2005. Als er mit Christofer spielen durfte. Vater und Sohn sind auf diesen Fußballplatz gegangen, unter amtlicher Aufsicht, und haben aufs Tor geschossen.

In einem Protokoll wird später zu lesen sein: "Für die Beobachter stellt sich das Spiel als ein unbefangenes Fußballspiel dar, wie es zwischen einem Erwachsenen und einem 6-jährigen Jungen üblich ist."

 


Der Pflegevater

Der Anruf, der Heiko Bauer seinen zweiten Sohn beschert, kommt an einem Donnerstag. Schon lange will er ein zweites Kind adoptieren, aber bislang hat es nicht geklappt. "Der Anruf kam relativ überraschend", sagt Bauer. "Das Jugendamt wollte wissen, ob wir auch kurzfristig ein Kind aufnehmen könnten." Das gewünschte zweite Kind für ihre Familie. Ein kleiner Bruder für ihren ersten Adoptivsohn.

Am Freitagmorgen fahren Heiko Bauer und seine Frau zum Krankenhaus in Leipzig. Eine Mitarbeiterin des Jugendamts zeigt der Familie den Jungen. Die Mutter ist schon weg, aber das Baby liegt in seinem Bettchen. Am Sonntag holen sie das Kind heim.

Das Haus der Bauers liegt in einer ruhigen Straße einer kleinen ostdeutschen Stadt. Man kennt die Nachbarn, die Nachbarn grüßen freundlich, hinter dem Haus stehen ein Klettergerüst und eine Schaukel. Am Tisch sitzt die Familie, es gibt Kaffee für die Erwachsenen und Kekse für alle.

"Ich habe mich damals wahnsinnig gefreut", sagt Bauer. Der 43-Jährige lächelt, dann schaut er prüfend. Noch nie hat er mit einem Journalisten gesprochen, er will nicht neuen Streitstoff liefern. Aber einmal seine Sicht schildern, das will er schon - wenn Görgülü sogar auf Mahnwachen redet und sich von der Presse in einem leeren Kinderzimmer fotografieren lässt.

Für Bauer und seine Frau sieht alles so einfach aus, im August vor sechs Jahren. Sie wissen nichts von einem Vater, der Interesse an dem Kind hat. Sie beschließen, dem Jungen einen anderen Namen zu geben, wie es auch andere Eltern machen, die ein Kind adoptieren wollen. "In den Unterlagen im Krankenhaus war nicht klar zu erkennen, wie er heißt, da stand Christian und Christofer, und das auch noch in verschiedenen Schreibweisen", sagt Bauer.

Noch weiß er nicht, dass die Namensgebung einmal zu einer Strafanzeige führen wird; noch denkt Görgülü nicht daran, Anzeige zu erstatten.

Als Bauer erfährt, dass es Kazim Görgülü gibt, lernt er ihn kennen. Mehrfach treffen sich die beiden Männer, gemeinsam mit ihren Frauen und dem Kind. Das Amtsgericht hat eine Sozialpädagogin als Verfahrenspflegerin eingesetzt, die diese Treffen arrangiert. Görgülü bringt türkischen Tee mit, Bauer hat Babyfotos dabei. Man kommt sich näher, man duzt sich.

Es gibt ein Video vom ersten Treffen. Es zeigt einen aufgeweckten Einjährigen, der über den Boden tapst und Bauklötze stapelt. Links von ihm steht Kazim Görgülü, er hält sich schüchtern vor der Wand, rechts kniet Heiko Bauer. Bauer nimmt ein Plastikflugzeug und schubst es in die Richtung des fremden Mannes. Damit das Kind zu seinem Vater krabbelt.

Mehrere weitere Begegnungen finden statt, einmal schlendern alle gemeinsam über den Weihnachtsmarkt, aber die Stimmung wird schlechter. Heiko Bauer ist es leid, dass er den Jungen, der ihn seinen Papa nennt, nicht nur immer häufiger aus der Hand geben soll - sondern schließlich für immer. "Bei einem Treffen ist Herr Görgülü einfach eingeschlafen", sagt Bauer. "Und seine Frau hat gesagt: Wir wollen den Jungen in unserer Familie, egal, ob es dem Kind gut tut oder nicht." Beides bestreitet das Ehepaar Görgülü vehement.

Aktenkundig ist: Das Oberlandesgericht Naumburg will keine weiteren Treffen. Es setzt den Umgang für ein Jahr aus und verwehrt Görgülü das Sorgerecht. Die Richter stützen sich auf ein Gutachten des Landesjugendamts und verweisen auf die "enge Eltern-Kind-Bindung" zwischen Christofer und den Pflegeeltern. Das Verfassungsgericht sieht zu diesem Zeitpunkt keinen Grund, sich mit der Sache zu befassen.

Natürlich kann man die Gerichtsentscheidung kritisieren; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird dies fast drei Jahre später tun. Aber kann man Bauer kritisieren, dass er so lange einer rechtskräftigen Entscheidung folgt? Er freut sich einfach, dass Ruhe einkehrt. Seine Frau beendet den Erziehungsurlaub, die Lehrerin arbeitet jetzt als Steuerfachgehilfin. "Da bin ich flexibler und kann besser für die Kinder da sein", sagt sie.

Das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs trifft die Familie überraschend. Nur ein Bruchteil der Beschwerden, die in Straßburg eingehen, hat Erfolg. "Das Jugendamt und wir sind in dem Verfahren überhaupt nicht angehört worden", sagt Bauer. Die Richter in Straßburg verurteilen die Bundesrepublik, sie kritisieren das Oberlandesgericht und das Jugendamt - aber sie treffen vor allem Bauer und seine Frau.

Nachdem sich die Gerichte noch einige Scharmützel geliefert haben, hat Bauer nun am Samstag bereitzustehen. "Da ist an ein normales Familienleben nicht mehr zu denken", sagt er. Jeder Urlaub sei rechtzeitig anzumelden, sonst gebe es Ärger. "Einmal hatten wir die Koffer schon gepackt", sagt Bauer - da habe Herr Görgülü beim Landesverwaltungsamt den Urlaub noch unterbinden wollen.

Aus Kazim ist längst wieder Herr Görgülü geworden, aus einem vernünftigen Miteinander ein nervenaufreibender Kampf ums Kind. Der beginnt mit den Begriffen: Bauer bezeichnet sich als Adoptivpflegevater, da er mit seiner Frau die Adoption anstrebt. Görgülü aber bezeichnet ihn als Pflegevater, wie ihn Kinder haben, die nur vorübergehend von ihren Eltern getrennt werden. "Manchmal wird auch behauptet, wir wollten uns nur bereichern", sagt er. "Das ist völliger Quatsch." Ihm und seiner Frau gehe es allein um Christofers Wohl. Sie kassierten Kindergeld, sonst nichts.

Doch Bauer bekommt es mit vielen Vorwürfen und Verdächtigungen zu tun. Der Verein "Väteraufbruch für Kinder" ruft zu Spenden auf, "Sonderkonto Görgülü", und zu Mahnwachen. Anfang Dezember wurden in Halle, dem Sitz des Landesjugendamts, wieder Schilder in die Höhe gehalten: "Keine Zwangsadoption von Christofer durch die Pflegeeltern!" und "Stoppt die Kinderhändler in Gerichten aller Instanzen und in den Jugendämtern!"

Bauer sagt: "Wenn wir wirklich den Umgang vereiteln würden, dann hätte es doch auch am 28. Mai nicht geklappt. Es war der Tag, als Christofer mit seinem Vater aufs Tor schoss. Abends war Christofer "völlig erschöpft", berichtet Bauer. Am nächsten Morgen soll er gesagt haben: "Ich will nicht mehr mit Kazim spielen."

Das Kind

An den guten Tagen darf Christofer einfach nur Kind sein. Er kann sich, wenn gerade keiner guckt, schnell so viele Erdbeer-Bonbons in den Mund stecken, dass er kaum noch kauen kann. Und beim Kaffeetrinken kann er ein bisschen auf dem Stuhl zappeln; bis er ans Tischbein stößt und der Kaffee aus den Tassen schwappt und die Eltern ziemlich böse blicken.

Das Leben könnte sehr einfach sein, wenn man gerade sechs geworden ist.

Im Leben dieses Kindes aber ist nichts mehr einfach. Im Februar steht der nächste Gerichtstermin an, vorher soll Christofer wieder einmal begutachtet werden, von einer Psychologin des Landeskriminalamts. Dann will das Oberlandesgericht, diesmal der 8. Zivilsenat, entscheiden, was nun mit dem Umgang ist, und vielleicht auch bestimmen, wer das Sorgerecht hat. Doch der Streit könnte weitergehen.

Kein Richter Azdak, wie ihn Brecht in seinem "Kaukasischen Kreidekreis" auftreten lässt, kann ihn einfach beenden. Das deutsche Rechtssystem, das eigentlich dem einfachen Prinzip "Ober sticht Unter" folgt, wirkt wie eine Endlosschleife. Bisher sind so viele einstweilige Anordnungen und so wenige endgültige Entscheidungen getroffen worden. Der Rechtsweg scheint nie erschöpft, aber Heiko Bauer wirkt erschöpft und Kazim Görgülü auch.

Heiko Bauer sagt: "Wir haben Verständnis für die Interessen des leiblichen Vaters. Es ist schade, dass er nicht zum richtigen Zeitpunkt da war. Aber jetzt geht es nur darum, was besser ist für das Kind, und in unserer Familie ist es fest integriert."

Kazim Görgülü sagt: "Ich hab nichts gegen die Pflegeeltern. Aber ich will meinen Sohn, man kann ihn mir doch nicht wegnehmen. Das ist doch nicht gut für Christofer."

Das Kind sagt noch nicht viel. Eines Tages aber wird Christofer sein eigenes Urteil fällen, was richtig war und was falsch. Er wird dazu in seinem Leben lesen können, in mindestens 3 Gutachten, 5 Strafanzeigen, 36 Gerichtsentscheidungen.